· 

Ist "losgelassen" los-gelassen?

 

Was ist denn diese Losgelassenheit und warum steht sie gleich hinterm Takt auf Platz 2 der Skala der Ausbildung? Und obwohl das so ist: warum glauben so viele Reiter, sie getrost überspringen zu können? Der Preis ist hoch!

 

Der Schweif rotiert, die Zähne knirschen, das andauernde Schlauchgeräusch des Wallachs ist weit über den Platz zu hören. Reaktion des Reiters? Meistens Fehlanzeige. Wie ein Kavaliersdelikt werden diese Anzeichen auf subjektiven (Di-)Stress und negativer Spannung gern übersehen. Aber ist ein Pferd automatisch logelassen, wenn es keine von den oben genannten Stressanzeichen zeigt?

 

Über ein losgelassenes Pferd liest man folgende Eigenschaften: taktrein, nach vorn gedehnter Hals, schwingender Rücken, zwanglos... aber was, wenn davon scheinbar gar nichts vorhanden ist, sobald der Reiter drauf sitzt und/oder die Zügel aufgenommen hat? Und was, wenn Zwanglosigkeit zwar vorhanden ist, der Körper des Pferdes den Reiter aber trotzdem aus mangelnder Fitness nicht tragen kann? Nur loslassen hilft halt auch nix.

 

Losgelassenheit ist ein Produkt einer sehr soliden Grundausbildung, die wohl bedacht an das jeweilige Pferd angepasst und nicht einfach vergessen werden kann, wenn das Pferd bereit ist für die weitere Ausbildung. Die Basis soll immer solider werden, nicht brüchiger und löchriger, je höher das Pferd ausgebildet ist.

 

Negativer Stress verhindert den Lerneffekt. "Ich war so frustriert, weil mein Pferd jahrlang anscheinend gar nichts kapiert hat, was wir ihm versucht haben beizubringen." Diese und ähnliche Aussagen treffen den Kern der Sache. Der Stress hat schlicht und einfach das Lernpotential gekillt. Das Pferd war nicht aufnahmefähig, es wurde ständig überfordert. Es hat weder angemessen Muskulatur aufgebaut, noch hat es kapiert worum es ging. Wenn diese geistige Losgelassenheit fehlt, dann fühlt sich das Pferd weder sicher oder wohl, sondern bewegt sich an einer roten Linie, die, wenn sie überschritten wird nicht nur den Körper an der Weiterentwicklung hindert, sondern auch für allerhand "Widersetzlichkeiten" verantwortlich ist. Sind es nicht die bereits oben angeführten Eigenschaften, die kaum zu übersehen oder zu überhören sind, so kann es sich auch in Form von Stürmen, Pullen, gegen Bein und Hand gehen, gegen das Bein (Gerte, Sporen) schlagen etc. zeigen. Aber auch Lustlosigkeit, Triebigkeit, Furchtsamkeit, blockieren, rückwärts ausweichen, steigen, stehen und nicht weiter gehen wollen, extreme Außenorientiertheit, zwicken und rempeln sind mögliche Zeichen einer Überforderung und müssen immer analysiert werden. Denn genau dann kann Losgelassenheit erst gar nicht entstehen. Und: wenn die geistige Losgelassenheit fehlt, wie soll sie sich dann körperlich überhaupt einstellen können? Der Umkehrschluss ist aber auch folgender: wenn das Pferd körperliche Beschwerden hat, die sich zum Beispiel schon beim Putzen oder Satteln zeigen, wie soll sich dann geistige Losgelassenheit einstellen können?

 

Reiten soll leicht sein. Aber alles was so leicht ausschaut, ist meistens gar nicht so einfach - weder für das Pferd, noch für den Menschen. Wie viel Losgelassenheit sitzt denn mit dir im Sattel? Und psssst: sich selbst anzulügen hat noch niemandem geholfen! Zu wenig Körperspannung oder zu viel, mangelnde Beweglichkeit weil 40-Stunden-Woche im Büro und kein Sport außer die Versuche, sich halbwegs elegant am Pferd festzuhalten und die drei Runden Trab durchzuhalten ohne zu hyperventilieren. Sport für den Sport? Wo kommen wir denn da hin? Es ist doch "nur" ein Hobby. Blöderweise ist der andere Freizeitpartner auch ein Lebewesen.

 

Losgelassenheit ist das Resultat sehr vieler Dinge. Sie braucht aber auf jeden Fall positive Grundspannung, im Geist und im Körper. Ansonsten ist es für das Pferd schlichtweg unmöglich, gesundheitsfördernd gegen die Schwerkraft (und noch allerhand weiterer Kräfte) zu arbeiten und dann noch einen Reiter zu tragen. Es braucht Trainer, die die Reiter schulen, sie empfänglich werden lassen für die Gemütszustände ihrer Pferde. Trainer, die Pferde langsam reifen lassen, Qualität vor Quantität stellen, den Pferden genug Zeit lassen zum Ausprobieren, zum Pausieren, zum Hinterfragen, zum Atmen, schlichtweg zum Entwickeln.

 

Losgelassen ist nicht lose gelassen, nicht fest gehalten, nicht nieder gedrückt, nicht aufgestachelt. Losgelassen ist aufnahmefähig, an- und entspannungsfähig, wissbegierig und behält sich immer noch genug Möglichkeiten offen. Losgelassenheit geht niemals über rote Grenzlinien. Doch die Losgelassenheit hilft, diese Linien kontinuierlich nach hinten zu verschieben.

 

Wann sich Losgelassenheit einstellt, ist subjektiv. Genau wie Menschen sind Pferde sehr individuell in ihrem Spannungsverhalten und ihrer Gefühlswelt. Auf jeden Fall gilt aber: ein unerfahrenes Pferd braucht einen Reiter, der diese Losgelassenheit vorlebt und einem unerfahrenen Reiter wünsche ich ein losgelassenes Pferd, damit er die Möglichkeit hat, zur Ruhe zu kommen - im Denken, im Fühlen und in Aktion und Reaktion.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0